Der abendliche Hafen von Tanger

Tanger

Nun also Tanger. Oder Tangiers. Oder Tangere. Oder wie auch immer. Gemäss Legende ist Tanger von Antaios, dem Sohn von Poseidon und Gaia, gegründet worden. In der Realität waren es aber die Karthager im 5. Jahrhundert v. Chr., die Tanger als Tingis gebaut haben. Wie so manche Siedlung im mediterranen Raum kannte der Ort im Laufe der Jahrhunderte mehrere Herrscher. Erst kamen die Römer und nannten es Mauretania Tingitana, dann im Jahre 702 die Araber, dann hielten 1471 die Portugiesen Einzug, 1580 die Spanier, 1661 die Briten, 1684 die marokkanischen Alawiden. 1912 verlor Marokko seine Unabhängigkeit an Frankreich und Spanien, wobei Spanien den wesentlich kleineren Teil im Norden erhielt und diesen gleich militärisch besetzte. Frankreich hielt sich vornehm zurück und schloss mit dem Sultan von Marokko einen Vertrag, der Marokko zum Protektorat machte. Der Status von Tanger aber blieb vorläufig ungeklärt. Erst 1923 wurde eine Lösung gefunden, indem die Stadt zur Internationalen Zone erklärt wurde. Für Tanger bedeutete dies eine Stadtverwaltung unter den Generalkonsuln von acht europäischen Staaten, ausserdem die Zollfreiheit gegenüber Europa. Tanger wurde zur Freihandelszone, damit auch ein Eldorado für Schmuggler und Anziehungspunkt für Sinnsucher, Reiche, Schwule, Exzentriker, Aussteiger und Aussenseiter jeglicher Herkunft und Einteilung, auch für eine ganze Reihe Schriftsteller aus Europa und den USA. Hier fanden sich Spione jeglicher Couleur ein, Kriminelle, denen in ihren Heimatländern Gefängnis drohte, verfolgte Juden, Franco-Gegner aus Spanien, später Beatniks und Hipster aus San Francisco und eben auch viele Intellektuelle aus Europa.


1942 hatte Tanger 13 Moscheen, 15 Synagogen, sechs katholische und drei protestantische Kirchen. Es gab ein Dutzend europäische und fünfzehn muslimische Bordelle mit zusammen mehr als 300 Prostituierten. Homosexualität war geduldet und einige Knabenbordelle machten Tanger zu einem der beliebtesten Reiseziele für global denkende Pädophile. Die Stadt war (und ist es immer noch) berüchtigt wegen der Unmengen von Haschisch, die in den Gassen der Medina feilgeboten wurden. Es gab weder Einkommens- noch Vermögenssteuern, dafür 81 Banken und 5‘000 Briefkastenfirmen. Dieser Zustand blieb, mit Ausnahme der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Tanger unter alleiniger spanischer Verwaltung stand, bis zum 29. Oktober 1956. In diesem Jahr hatte Marokko seine Unabhängigkeit erhalten und erhielt mit diesem Schritt auch die Stadt Tanger mit 150‘000 Einwohnenden, davon zwei Fünftel Europäer, zurück. Damit war dann mit gewissen Freizügigkeiten, was Freihandel, Steuern, Nacht- und Untergrundleben betraf, Schluss.

(Aus: «Tre Vulcani», 2015)

Und jetzt bin ich also wieder da. Mal sehen, was sich getan hat in letzter Zeit.

Der abendliche Hafen von Tanger

Der abendliche Hafen von Tanger