Nacktwandern

«Sag mal, Gudio, die Nacktwanderei bei euch im Appenzell, gibt es die immer noch?» fragte Schur.
«Nein, hat sich gelegt, die Ausserrhoder haben es verboten, und bei uns waren ja alle immer anständig bekleidet», antwortete Chefarzt Langenegger.
«Einem nackten Innerrhoder möchte ich nicht begegnen», grinste Manser, der vor Jahren aus Appenzell augewandert war und im Thurgau eine gutgehende Beiz mit 18 Gaul & Miau-Punkten betrieb, «würde mir grad den Appetit verderben.»
«Was du auf den Tisch bringst, verdirbt mir manchmal auch den Appetit», warf Karre, zynisch, wie man ihn kannte, ein.

«Ich weiss gar nicht wie das sein kann, ich habe dich liberements noch nie in meiner Gaststube gesehen», gab Manser zurück.
Karre, der Garagist aus Appenzell, schmierte des öfteren seinen zynischen Senf in die Diskussion.
Er war aus der Sicht der anderen aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen seit zwei Jahren Mitglied im Rotary Club Appenzell-Schwende. Man munkelte, Karre hatte Chefarzt Gudio Langenegger unter Druck gesetzt, um reinzukommen:

«Bring mich in diesen Club, oder ich setze den Motor deines Merz nicht mehr zusammen!»
Es war vor fünf Jahren, Langenegger hatte sich einen Oldtimer mit dem gleichen Jahrgang wie er selber, 1960, angeschafft, einen Mercedes-Benz 190 SL, Cabriolet, rubinrot. Karre sagte, er hätte das Auto in miserablem Zustand in Monte Carlo beschafft, und behauptete, es sei der Wagen, mit dem Grace Kelly damals die Kurve nicht kriegte, was Langenegger nicht so richtig glauben wollte, den Wert des Oldtimers von 130‘000 € aber nicht schmälerte. Langenegger war dennoch sofort verliebt in die Karre und war sich mit Karre schnell handelseinig.

Doch für diesen Preis musste der Merz total restauriert in Langeneggers Hände übergehen. Karre nahm sich den Wagen vor und arbeitete ein gutes Jahr jeden Abend daran. Als er schliesslich das Triebwerk zerlegte, kam Karre bei Langenegger mit der Idee der Aufnahme in den Club. Langenegger blieb nichts anderes übrig, er musste wohl oder übel Karre seinen Appenzeller Rotariern zur Aufnahme vorschlagen. Obwohl der Mann weder Anstand noch Stil hatte, noch nicht einmal einen adäquaten Anzug besass und in der Folge jedes Jahr bis zu vier Mal zur Zahlung des happigen Jahresbeitrags aufgefordert werden musste. Nun hatten sie ihn, den stets bissigen, zynischen, nicht gerade mit überragender Intelligenz, dafür mit überragender Hinterhältigkeit ausgestatteten Garagisten im Club.

«Also dir möchte ich weder nackig noch bekleidet in einem abgelegenen Tal im Alpstein begegnen», raunzte der üblicherweise recht distinguierte Schur Karre an.
«Heute gehen sie viel eher schlecht ausgerüstet in die Berge als gar nicht bekleidet. Dann muss sie die REGA ausfliegen und unser Gudio bekommt Arbeit», meinte Manser. «War da nicht unlängst einer, der mit Flip Flops unterwegs war und im Neuschnee abstürzte?»

«Ja dieser versoffene Journalist aus dem Unterland, dieser Spinner, schier erfroren war der, total unterkühlt, ein Eismann, naja, er hatte wenigstens noch ein Hose an», erinnerte sich Langenegger, «ich habe den zurückgeholt.»
«Wie zurückgeholt, vom Berg?» fragte Manser.
Langenegger schüttelte den Kopf: «Nein, vom Tod seinem Karren!»
Karre: «Habe gehört, der war sturzbetrunken, hat eine Flasche Schnaps geleert in einer Alphütte?»
Langenegger: «Ja genau, aber wegen des hohen Pegels hat er überhaupt überlebt, der Kerl.»
Karre nochmals: «Und unter Drogen war er auch, Koks, oder was war das?»
«Chacrunakraut, Schnaps und Tabletten, eine ziemlich infame Mischung, der muss einige böse Albträume gehabt haben. Ich weiss bis heute nicht, wie er an das Kraut gekommen ist. Er ist eines Morgens abgehauen.»

Wirt Manser: «Was ist Chacruna?»
Langenegger: «Ein psychedelisches Kraut aus Südamerika, ich erklärs dir ein ander Mal, teil du jetzt lieber die Karten aus!»
Manser gab das Spiel, Schilten war Trumpf. Doch dieses Chacruna liess Manser keine Ruhe. Vielleicht könnte man sowas ins Gemüse mischen? Oder als Appetizer, statt Basilico auf Bruschette? Gibt sicher gute Stimmung am Tisch.