Fremdleiden in Qualantäne

Posted by michl on 14/10/2020 in nebi |

Nicht die Quarantäne ist eine Qual. Das was was auf einem so eindringt derweil ist es. Man liest zum Beispiel Fakten wie: «Bruder von Dominik Aegerter in Thailand gestrandet.» Dann leidet man richtig mit mit diesem Bruder, der da so einsam am Strand gestrandet ist und nicht heim kann. Es ist schon seltsam: Erst wollen sie weg, so weit wie möglich und Strände muss es dort haben so weit das Auge reicht. Dann bricht zuhause eine Epidemie aus und sofort wollen sie wieder zurück. Und das Land muss sofort dafür sorgen, dass man entstrandet wird, nullkommaplötzlich und gratis natürlich. Während sie dann öd am Flughafen warten, rufen sie die Nummer des Blick an und erzählen ihr Leid.

Nicht rechtzeitig abgehauen

Man, also ich, als Zuhausegebliebener, bzw. als einer, der es nicht rechtzeitig geschafft hat, abzuhauen, steigert sich derweil in abstruse Gedanken. Jetzt wo man fliegen könnte, aber nicht darf, gerade jetzt, wo man alles für sich allein hätte, Flughafen, Flieger, Hotel, Pool, Spa, Bar, gerade jetzt darf man nicht. Gut, man muss sich so auch nicht schämen, dass man fliegt, und muss sich auch nicht fremdschämen, dass es andere tun, denn zurzeit tut es grad fast niemand (ausser die Gestrandeten). Das mit dem Fremd (oder fremd) geht jetzt grad nicht, nichts da, was Gründe liefern könnte. Kein fremdgehen, kein fremdeln (dazu sind wir eh zu alt), keine Fremden (wir sind alle ein einig Volk von Angsthasen), kein fremdhassen (die Fussballnazis sind zurzeit nicht sehr aktiv), nichts ist mir also fremd, wir liegen uns alle in den Armen. Ups, nein, ist ja grad auch verboten.

Wir könnten doch fremdleiden

Aber ich könnte doch fremdleiden? Mit Prinz Charles zum Beispiel, der Positive (lebt er eigentlich noch?), mit Jürgen Drews, der 75-Jährige (Frau Ramona buk ihm einen Kuchen zum Geburtstag), und eben die Gestrandeten. Darunter wieder die Promis, z.B. Marc Surer (ist 10’000 km weit weg von Freundin), Jasmin Tawil (who the fagg is Jasmin Tawil?) und eine deren Namen ich vergessen habe (wahrscheinlich ein B-Promi). Ich fremdleide mit der Dunkelziffer der positiv auf Corona nicht Getesteten. Ich fremdleide mit Daniel Koch, der arme Kerl darf nicht in Pension gehen und nimmt jeden Tag zwei Kilo ab. Ich fremdleide mit Martina Colombari (44), deren Knie ruiniert sind wegen des Sex mit Alessandro Costacurta (53). Who the fagg sind Martina Colombari und Alessandro Costacurta? Das Traumpaar am italienischen Promi-Himmel tenk. Kann man, also ich, überhaupt mit jemandem fremdleiden, von dem (oder der) ich noch nie etwas gehört habe?

Zwillinge namens Corona und Covid

Je länger die Quarantäne – Qualentäne – dauert, desto mehr fremdleide ich: «Inder taufen ihre Zwillinge Corona und Covid». Zum Glück leidet der Blick mit: «Da kriegen Eltern Schnappatmung». Mannomann. «Freundin schneidet Ronaldo die Haare – über 46 Millionen schauen zu» (bei den 46 Millionen handelt es sich nicht um Dollars, imfall). Fremdleiden ist zum Durchdrehen. Fünfzehnmal weniger schauen der Star-Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim zu, wenn sie uns erklärt, wie lange das noch geht. Das Video dauert eine halbe Stunde, dann ist man komplett kirre ob der Fakten, die der junge Star, Blick und Youtube einem entgegenwefen. Im Artikel darüber (in der Gratiszeitung) wird berichtet, dass in Thailand ein 82-Jähriger (ein Schweizer) in einem luxuriösen Lotuswell-Resort für Senioren verstorben ist, nachdem er positiv auf das uns jetzt allen zur Genüge bekannte Virus getestet worden ist. Ich fremdleide nun ganz elend.

Vom traurigen Schicksal eingeholt

Dabei ist es nicht eigentlich das traurige Schicksal, das den Hochbetagten eingeholt hat, sondern die Tatsache, dass er der erste Mensch ist, der unmittelbar nach einem positiven Test gestorben ist. Also ohne krank zu sein. Das ist die eigentliche Sensation. Nun geht im Luxusresort die Angst um, dass ebendieses unter Quarantäne gestellt werden könnte. «Das Schlimmste für die hier lebenden Rentner wäre», sagte der Besitzer zum Leserreporter, «wenn sie ohne Kontakt und Bewegung in ihren Wohnungen eingesperrt würden.» Ein Schelm, der (oder die) Schlüpfriges denkt. Ich fremdleide weiter und hoffe, nicht noch wirklich überzuschnappen ob dieser wirklich tragischen Schicksale. Was gäbe ich doch dafür, wieder normale Schlagzeilen lesen zu dürfen wie: «Auto fliegt drei Meter durch die Luft» (in Zürich), oder «Hatte nur zwei Schnäpschen und einen Kafi Luz» (sagte ein Pole (38), nachdem er mit 2,8 Promille in Wittnau AG einen Hydranten rasiert hatte). Ich will wieder ganz normalen Wahnsinn hören/lesen/reinziehen. Wie man einen Hydranten rasiert, zum Beispiel.

Erschienen am 1. Mai 2020 im Nebelspalter

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